An dieser Stelle haben wir eine neue Rubrik auf unserer Homepage eröffnet. Musik und Literatur sind schon immer unsere Leidenschaften. So sind für uns Romane, Erzählungen, Biografien, in denen die Musik oder Musiker eine besondere Rolle spielen, besonders spannend. Unser Freund Uwe Spannhake teilt mit uns dieses Interesse. Er stellt in lockerer Reihenfolge Bücher vor. Freuen Sie sich auf die neue Buchbesprechung bei uns.
September 2015
Alan Rusbridger „: Play it again: Ein Jahr zwischen Noten und Nachrichten“, Secession Verlag für Literatur, Zürich, 2015
Heute möchte ich Ihnen gerne ein besonderes Buch vorstellen, jedoch nicht uneingeschränkt zum Lesen empfehlen. Es sei denn, sie beschäftigen sich professionell mit Klaviermusik. Falls nicht, ergeben sich hier vermutlich dennoch einige interessante Aspekte, hoffe ich jedenfalls.
Alan Rusbridger war bis Juli 2015 zwanzig Jahre lang Chefredakteur des britischen Guardian, 2014 wurde ihm für seine Arbeit sogar der alternative Nobelpreis verliehen. Seine Arbeitstage umfassen selten 8, eher bis zu 14 oder sogar mal 16 Stunden. Manager entdecken dann zum Ausgleich Yoga, Jogging oder ein Fitnessstudio für sich, stürzen sich in die Anschaffung von Luxusartikeln.
Wenn man einen gebrauchten Steinway-Flügel, in seinem Landhaus in Blockley, einem kleinen Dorf westlich von Oxford in hügeliger Landschaft und einen der Marke Fazioli in seinem Londoner Haus dafür hält, würde Rusbridger in dieser Hinsicht nicht aus dem Rahmen fallen.
Doch sein „Sport“ ist das Klavierspielen, speziell hat er sich 2010 vorgenommen, innerhalb eines Jahres die schwierige Chopin-Ballade Nr. 1 in g-Moll, op 23 zu erlernen und einem besonderen Freundeskreis vorzuspielen. Er plant, möglichst jeden Tag 20 Minuten vor der Arbeit zu üben. Dazu verweist er auf Arnold Bennett, der schon 1910 in „How to Live on 24 Hours a Day“ Hinweise für eine produktive Zeitnutzung gab.
Und tatsächlich „beflügelt“ sein morgendliches Üben ihn den ganzen Tag –u.a. bei den schwierigen Verhandlungen mit Julian Assange über die Wikileaks-Veröffentlichungen, beim Aufdecken britischer Abhöraffären, sogar in Libyen, wo der Starreporter des Guardian für den Nahen Osten, Ghaith Abdul-Ahad gefangen gehalten wird und Rusbridger ihn frei bekommt. „Beim Essen erspähe ich einen Petrof-Flügel auf einer Galerie über dem Restaurant. Ich habe die Noten der Ballade dabei und wir müssen noch zwei Stunden warten, bis Ismael uns zu Ghaith bringen wird. Also spiele ich in Tripolis, inmitten eines Bürgerkriegs, über einem leer gefegten, widerhallenden Restaurant…“.
Das Erlernen wird immer mehr zur Obsession. Er trifft bedeutende Pianisten, u.a. Barenboim, Perahia, Beresowski, auch Alfred Brendel, der im Italienurlaub in dem gleichen weitläufigen Gelände auf dem Landgut La Foce im toskanischen Val d´Orcia zeitgleich Urlaub macht. Mit allen philosophiert Rusbridger über Interpretationen der Chopin- Ballade, über die Bedeutung von Amateurpianisten in den Zeiten von Youtube, über Fingersätze, Pedalführung und Intonation. Er sucht auch den Kontakt zu führenden Neurologen, um sich zu vergewissern, wie und ob das Auswendiglernen schwieriger Passagen im Alter von 57 noch zu bewältigen ist.
Aus dem Jahr werden letztlich 16 Monate, dabei nimmt er Unterricht bei vier verschiedenen Klavierlehrern und nutzt wie vorher auch schon eine jährliche Urlaubswoche im Lot-Tal in Frankreich zum intensiven Üben in einer Gruppe begeisterter Amateurpianisten.
Faszinierend empfand ich, mit welcher Empathie und Hartnäckigkeit Rusbridger sein Ziel verfolgte. „Warum trifft meine linke Hand bei diesem oder jenem Akkord nicht die richtigen Töne? Wo bleibt die synkopierte Pedalführung? Jetzt springt Michael auf und schubst mich zur Seite, um mir zu zeigen, wie es geht. Ich habe gar keine andere Wahl, als mich voll auf den Unterricht zu konzentrieren. Eine Stunde lang denke ich an nichts anderes. Aber um Punkt 9 tauche ich wieder in die Arbeitsroutine ein, die sicher nicht vor 2 Uhr nachts enden wird.“
Nach 16 Monaten ist es dann so weit. „Schnell, zu schnell füllt sich der Raum mit Zuhörern. Die (Klavier-) Lehrer werden einander vorgestellt, machen freundliche Scherze über das seltsame Sisyphus-Projekt, in das sie allesamt verwickelt sind. Ich kann meinen Auftritt nicht mehr länger hinauszögern.“
Rusbridger schreibt weiter: „ Das Konzert wird nicht perfekt sein, aber darum geht es nicht. Ich will eine Geschichte erzählen, ich will die Erlebnisse einer langen Reise mit Freunden teilen…“ Und dann:
„So wird Spannung aufgebaut, die sich beim nächsten Ton entlädt: dem ersten Akkord der Coda. Diese Überleitung habe ich in den vergangenen sechs Monaten ungefähr 200 -mal geübt. Heute Abend: Blackout. Mit welchen Tönen beginnt die Coda? Ich weiß es nicht…Angst - ich spüre, wie sie mir den Nacken hinunterkriecht… Das Zögern dauert letztendlich nicht mehr als eine Dreiviertelsekunde-aber für mich ist es eine kleine Ewigkeit. Und dann ist die Blockade überwunden…
Plötzlich ist es vorbei. …Es folgt ein Augenblick der Stille. Dann springen alle auf, meine Töchter kommen angelaufen und stürzen sich auf mich, es umarmen sich Gratulation (ihre) und pure Erleichterung (meine). Ich kann mich nicht erinnern, jemals so eine plötzliche, unmittelbare körperliche Welle der Erlösung verspürt zu haben.“
Liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht stehen Ihnen dazu andere Wege offen. Aber bleiben auch Sie Ihrem Klavier oder Flügel durchaus treu.
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