Musikalische Literatur


5. Februar 2016

An dieser Stelle haben wir eine neue Rubrik auf unserer Homepage eröffnet. Musik und Literatur sind schon immer unsere Leidenschaften. So sind für uns Romane, Erzählungen, Biografien, in denen die Musik oder Musiker eine besondere Rolle spielen, besonders spannend. Unser Freund Uwe Spannhake teilt mit uns dieses Interesse. Er stellt in lockerer Reihenfolge Bücher vor. Freuen Sie sich auf die neue Buchbesprechung bei uns.

Februar 2016


Anna Enquist „Streichquartett“, Luchterhand Verlag München 2015


Auf meiner Suche nach weiteren Büchern, die Lebensschicksale und Musik verknüpfen, fiel mir dieses sofort auf. Zu Beginn las ich es begeistert, zum Ende hin verärgert, so dass ich es als eher ungeeignet für diese Rubrik bei Seite legte.
Doch im Abstand merke ich, dass es mich doch beschäftigt(e); nicht jeder Roman muss die eigene Weltsicht bestätigen.
Hugos Hausboot in Amsterdam ist der regelmäßige Treffpunkt des Streichquartetts, bestehend aus Hugo, der Ärztin Carolien, ihrem Mann Jochem und der Krankenschwester Heleen. Altersmäßig könnte man sie in diesem Roman in einer Midlife-Krise einstufen, doch liegen die Ursachen der Lebensunzufriedenheit tiefer. Das Paar ist im Alltag nahe an der Sprachlosigkeit, ihre beiden Jungen sind im Alter von 10 und 12 tödlich verunglückt. „Ich sehe dich noch im Gerichtssaal sitzen, unter diesen 18 Elternpaaren. Du warst ungerührt. Ein ganzer Saal voller Mitbetroffener… Anklage gegen einen Busfahrer, der im Koma lag…eine Klassenfahrt, ein Bus, der von der Straße abkommt.“
Viel weiter hinten im Buch, die missglückte „Aufarbeitung“ dieses Schicksals schon aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, denkt Carolien:
„Lebenslust! Das ist reiner Verrat an den Jungs, das will ich ganz und gar nicht. Pflichterfüllung mag noch angehen, aber Lebenslust?“
Das gemeinsame Musizieren dient allen vier Beteiligten in gewisser Weise als Rettungsanker, zumindest vermeintlich.
„Sie fangen immer mit Bach an. Kunst der Fuge. Alle Stimmen gleichwertig.“ Doch: „Die Bratsche gerät aus dem Takt. Neuer Anlauf. Die zweite Geige ist zu laut und übertönt den Einsatz der ersten…Es ist nicht ihr Tag.“
Es gibt auch andere Abende. „Ein perfekter Abend, denkt Hugo zufrieden. Kräftig die Dissonanzen geprobt und nach der Pause, Wein und Bier intus, einen flammenden Dvorak hingelegt. Die Fenster standen offen und ohne dass sie es bemerkten, hielten größere und kleinere Boote an, und man hörte ihnen zu. Nach dem stürmischen Finale brandete Applaus auf.“
Doch der Zusammenhalt ist brüchig, bei gesellschaftlichen und politischen Diskussionen zeigt sich eine pessimistische und misanthropische Weltsicht. „Wie wütend er ist, denkt Hugo. Und dabei geht es jetzt nur um Politik, um die Regierung. Was fühlt er in Bezug auf das Unheil, das seinen Kindern zugefügt wurde? Warum explodiert er nicht? Naiv, denkt er… Nicht imstande, über die Trennwände zu schauen, die sie im Laufe ihres Lebens errichtet haben.“
Diese Weltsicht wird noch deutlicher im Schicksal des alten Cellolehrers Reinier van Aalst. Vor einem Vierteljahrhundert hatte Carolien drei Jahre lang bei ihm am Konservatorium studiert, bis sie sich entschloss, dem Medizinstudium den Vorrang zu geben. Carolien erinnert sich an diese Zeit: „Die Aufregung vor 25 Jahren – ich achtzehn und er in der Blüte seines Erwachsenenlebens. Die Verliebtheit, um ehrlich zu sein. Die Musik als so wichtig zu empfinden, dass alles andere auf der Welt wegfiel.“
Reinier ist mittlerweile sehr gebrechlich und hat enorme Ängste, davor zwangsweise in ein Altenheim abgeschoben zu werden – hier bekommt das niederländische Gesundheits- und Pflegesystem einen verheerenden Stempel aufgedrückt – und davor, von einem freundlichen hilfsbereiten Migrantenjungen ausgeraubt zu werden.
Es gibt allerdings auch kurze Momente, in denen man glaubt, dass die Lebenskurve wieder nach oben zeigen könnte. Hugo, der auf seinem Hausboot noch der relativ glücklichste der Beteiligten ist, wendet sich nach seiner Entlassung als Leiter des Musikzentrums Carolien zu. „ Du könntest mitkommen…Wär das nicht ein aufmunternder Gedanke, zusammen neu anzufangen. Ins Boot steigen, wegfahren.“ Carolien analysiert hart: „Er hat eine Midlifecrisis, und ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung. Beides geht nicht weg, wenn man die Flucht ergreift.“ Doch Hugo lässt nicht locker und für einen kurzen Moment kommt es zu einer innigen Begegnung. „Als sie in seine Augen schaut, ist alles weggefallen – und es gibt nur diesen Moment.“ Aber schon „..Während sie sich küssen, beginnt sie schon wieder zu denken: Gott, was für ein Klischee, zwei Menschen.., die ihre Köpfe in trauter Zweisamkeit in den Sand stecken, wie lächerlich.“
Auch für die Gruppe scheint es wieder eine Zukunft zu geben, als sie für den 50. Geburtstag des Praxispartners von Carolin Mozarts Dissonanzenquartett einüben und sich dabei wieder richtig aufeinander einlassen können.
Doch dann kommt es zu einem furiosen Finale, das „actionmäßig“ und leider auch ziemlich unglaubwürdig aufgebaut ist. Plötzlich geht es nur noch um das nackte Überleben aller Beteiligten.
Mir scheint folgende Information zum Verständnis dieses Romans noch nützlich (aus Wikipedia):
Anna Enquist wuchs in der niederländischen Stadt Delft (Provinz Südholland) auf. Sie studierte Klavierspiel am Königlichen Konservatorium in Den Haag und anschließend klinische Psychologie in Leiden. Seit 1991 widmet sie sich ausschließlich ihrem schriftstellerischen Schaffen.
In dem 2008 in Deutschland veröffentlichten Roman Kontrapunkt verarbeitet sie den tragischen Tod ihrer Tochter Margit, die 2001 im Alter von 27 Jahren bei einem Verkehrsunfall in Amsterdam ums Leben kam.

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